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Haut Médoc (Frankreich), 1998
Haut Médoc (Frankreich), 1998
Haut Médoc (Frankreich), 1998
Zeitverschwendung
Seien Sie endlich mal verschwenderisch! Werfen Sie mit der Zeit um sich. Und folgen Sie unserem Autor auf seiner Tour durchs französische Médoc. Es lohnt sich, wenn Sie sich aufs Genießen einlassen.

Mein Nachbar auf dem Weg Flug von Stuttgart nach Brüssel hat zu tun. Er fummelt unablässig in Excel-Tabellen auf seinem Computerbildschirm. Sein Puls schlägt im Takt der Geschäftswelt, aber er steigt dennoch ein in eine kleine Konversation über die Tretmühlen des Alltags und die des Urlaubs. Über Tretlager, Pedale und Muskelkater. Über meine Zuversicht, dem Diktat der Uhren, das Zeit in Geld umwandelt, zu entkommen. Keine Zeit sparen, sondern Zeit schaffen. Warum nicht mit dem Fahrrad? Der Sabenaflug SN 2655 erreicht Brüssel pünktlich. Flugsteig wechseln. Weitere 90 Minuten, bis die Landebahn von Bordeaux-Mérignac unter Regenwolken auftaucht. Wolken und Gewitter entladen sich in der Nacht.

Der Hund im Café La Gaieté macht Männchen. Als er sich auf den Hinterpfoten um seine Achse dreht gebe ich auf – und ein Stück Croissant ab. 40 Kilometer zunächst durch Vororte der südwestfranzösischen Metropole, dann über Landstraßen und Radwege liegen am späten Vormittag hinter mir. In Lacanau Ville gönne ich mir ein zweites Frühstück.

Der Patron fragt: „Fahren Sie noch weit?“ „Kommt darauf an“, sage ich. Auf das Wetter, auf Lust und Laune, auf meine Kondition, die der eines durchschnittlichen Pedal-Dilettanten entspricht. 76 Kilogramm Lebendgewicht und 18 Kilogramm Habseligkeiten mit Muskelkraft zu bewegen ist Aufgabe genug. Bloß keine private Tour de France – obwohl der Leistungsreflex ins männliche Stammhirn eingeschrieben ist, wie das Motto ins Poesiealbum des Klassenstrebers. Ich halte es mit Jan Ullrich: „Man fährt, was man fahren kann“, und denke dabei nicht an die Grenzen der Belastbarkeit. Der flache Zipfel des Haut Médoc zwischen der Gironde und dem Atlantikstrand eignet sich ohnehin nicht als Szenario für radsportliche Höchstleistungen. Wie ein geradliniges Schnittmuster zerteilen Straßen und Wege das Land. Allenfalls der Wind stemmt sich der Bequemlichkeit entgegen.

Der Kopf hat den Luftsprung an den Golf von Biscaya noch nicht mitgemacht, dafür gewöhnt sich der Körper bald ans Asphalt-Spinning. Das hebt die Stimmung. Ebenso wie das freundliche „Bonjour“ vorbeiziehender Pedalisten, das gehört zum guten Stil. Wie die Zurückhaltung motorisierter Verkehrsteilnehmer, die jetzt in der Einzahl auftreten und hinter mir bleiben, um bei Gelegenheit respektvoll auf der Gegenfahrbahn zu überholen. Als müsste Ungeduld erst noch erfunden werden. Gut, dass meine Armbanduhr tief in den Satteltaschen vergraben ist. Die Kirchturmuhren in den Dörfern genügen, um mich zu entwöhnen.

Hin und wieder meldet sich die Sucht mit typischen Symptomen in Form unsinniger Dreisatzrechungnen. Wie lange brauche ich bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 15 Kilometern pro Stunde nach Vendays oder nach Soulac-sur-Mer? Dabei kenne ich weder das Gelände, noch habe ich einen Schimmer, ob es nicht doch noch regnen wird – und schätze obendrein den Arbeitswillen meiner Beinmuskeln viel zu optimistisch ein.

Drei Restaurants, eine Bar, ein Laden mit Strandbedarf und Surfklamotten, der gerade schließt. Die wenigen Häuser von Hourtin Plage wirken ausgestorben am frühen Abend. Der Campingplatz erstreckt sich hinter den Dünen und beherbergt mehr Kiefernbäume als Frischlufturlauber. Mein Zelt steht auf sandweichem Waldboden in Rufweite zu einem Wohnmobil mit niederländischem Kennzeichen. Die Abendprogramm besteht aus einem Teller frischer Muscheln, einem Strandspaziergang und ein paar Sätzen mit dem Ehepaar Henk und Julia aus Naaldwjik, meinen Nachbarn.

Die Wolken lösen sich auf, die Morgenluft prickelt auf der Haut wie kühles Sprudelwasser. Hourtin liegt zwölf Kilometer hinter dem Dünenkamm. Das Café markiert die nordwestliche Ecke des quadratischen Dorfplatzes. Am Tresen stehen alte Männer, Waldarbeiter in blauer Arbeitskluft. Den halben Vormittag verbringe ich – bei Milchkaffee und fettigen Hörnchen aus der Bäckerei nebenan – mit der Lektüre der lokalen Tageszeitung ‚Sud Ouest‘: Wochenmärkte, Wettervorhersage, Polizeikontrollen, Ausflugstipps. Die Glotze flimmert tonlos in der Ecke. Die Postbotin grüßt, wirft eine Ladung Papier auf den Tresen und fährt mit dem Rad davon. Der Morgen im Dorfcafé wird Ritual.

Die Temperaturen steigen, einzelne Wolken betonen das Himmelsblau über den Landes. Der Sommer nähert sich zaghaft wie ein Schmetterling und bleibt schließlich mit langen Sonnenstunden. Landes ist ein Wort keltischen Ursprungs und bedeutet Heide- und Schwemmland. Die bukolische Geschichtslosigkeit des Landstrichs endet Mitte des 19. Jahrhunderts auf Wunsch des kaiserlichen Entwicklungshelfers Louis Napoléon. Der Ingenieur Nicolas Brémontier entwässert die Sümpfe, baut Straßen und sorgt mit dem Anbau von Kiefern und Eichen dafür, dass ich 150 Jahre später durch das mit einer Million Hektar größte Waldgebiet in EU-Land strampeln kann. Die deutsche Wehrmacht baut mit den sinnlosen Betonkisten des Atlantikwalls auch Pfade durch die Feuchtgebiete zu den Dünen, die sich heute in ein weit verzweigtes Netz von Rad- und Wanderwegen verwandelt haben. Hourtin Plage ist eine Masche im Netz. Ich schätze den Vorteil autofreier Infrastruktur und belasse meine Schlafstatt hier, anstatt die Region mit Sack und Pack im großen Rundkurs zu bereisen.

Der Stand der Sonne, mein Appetit und Zweiradtouren bestimmen den Rhythmus der Tage, die allmählich nicht mehr unterscheidbar sind. Das Surren der Kette über die Zahnkränze, die immer gleichen Bewegungen im Meereswind machen den Kopf frei, wie eine Festplatte, von der überflüssige Dateien gelöscht sind. Zeit sei nur nützlich, wenn sie nicht genutzt werde – so hat sich der französische Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio einmal geäußert. Die Zeit nicht nutzen heißt: Pedale treten, mit einem Buch als Kopfkissen in den Dünen dösen, mit bloßen Füßen in den Wellen stehen, Wein trinken am Abend. Ein müßiger Nachmittag schrumpft zu einem Augenblick, die Minuten des Sonnenuntergangs dehnen sich weit.

Unterwegs nach Soulac-sur-Mer: Mit Rückenwind segle ich rittlings durch den Forêt du Flamand nach Norden. Kilometerlange mannshohe Bretterzäune begleiten die Straße nach Montalivet, Nudistenwelten schützen sich vor aufdringlichen Blicken. „Ganzjährig geöffnet“ steht auf einem Schild am Eingangstor. Nackt in den Winterstürmen am Ozean?

Als habe die D 205 vergessen, eben und gerade zu sein, schlängelt sie sich östlich von Le Reynats durch Wiesen und Eichenhaine – bis sich, mit Aussicht auf die schlammige Gironde, die ersten Rebhänge an ihren Seite zeigen. Um pünktlich zu sein, musste ich die Armbanduhr aus ihrem Versteck holen. 15.30 Uhr am Empfang des 75-Hektar-Weinguts der Baronin Philippine de Rothschild. Das Weingut Mouton-Rothschild ist seit 1853 im Besitz der Familie. Führung und Dégustation. Justine führt durch Kelter und Keller und ist dabei sehr distinguiert, très française. Der Cabernet Sauvignon ist nach wechselnden Erfolgen seit 1973 wieder erstklassig und darf sich Premier Grand Cru Classé nennen. In klimatisierten Räumen konzentrieren wir uns unter kundiger Anleitung darauf, Aromen von Johannisbeeren, Brombeeren und Anis im jungen Jahrgang zu erschmecken. Die Andacht zu Ehren von Bacchus und Dionysos endet mit einem leichten Schwindelanfall in bleierner Hitze auf dem Hof. Abwarten und Wasser trinken. Der Blick vom Straßencafé im nahen Pauillac zeigt Hafen und Gironde in nachmittäglicher Lähmung. Aus einem Fenster schweben Pianoklänge von Keith Jarrett.

Über Stock und Stein nach Lacanau Océan. Der Weg zwischen Hourtin Plage und Carcans besteht aus schmalen geborstenen Steinplatten und Wurzelwerk auf Sandboden. Das macht Querwaldein-Fahrern Freude! 20 Kilometer lang verläuft er parallel zwischen Frankreichs größtem Binnensee, dem Lac d'Hourtin-Carcans und dem Atlantischen Ozean. Auf halbem Weg bleibt mir die Luft weg: Der Vorderreifen ist platt. Ein Plattfuß ist kaum der Rede wert, nicht einmal auf einem einsamen Pfad im Niemandsland. Ein Wasserlauf ist in der Nähe, das Loch im Schlauch ist schnell verklebt. Geschätzte zwei Stunden warte ich unterm Jasminbusch auf den nächsten Biker. Der hilft mir mit seiner Luftpumpe aus, die eigene muss ich wohl verloren haben.

In Lacanau Océan haben die Sonntagsausflügler aus Bordeaux das Meer zur Nebensache gemacht. Sie drängen sich auf der Promenade, die zur Fastfood-Meile mutiert ist: überall belegte Brötchen, Fritten, Crepes, Pizza und Waffeln mit Sahne. Dazwischen überfüllte Restaurant-Terrassen mit Meeresblick.

Zehn Tage sind um, 700 Kilometer heruntergekurbelt. In der Stadt wird mich weder das Brummen der Wellen in den Schlaf wiegen noch der Ruf der Kuckucks den Wecker ersetzen. Packen für die Fahrt zum Flughafen, Gedanken an Projekte, Konferenzen und Termine drängen wieder an die Oberfläche.

Wie eine Möwe zieht das Flugzeug eine Schleife und schrumpft das Land im Kabinenfenster auf die Größe meiner Michelinkarte. Am selben Abend bin ich zuhause – ohne Gepäck und Fahrrad. Die haben unterwegs den Anschluss verpasst und werden die Heimreise erst vier Tage später beenden. Der Gedanke lässt mich kalt. Was sind schon vier Tage?

Ulrich Schendzielorz



Sie finden diesen Artikel in der Zeitschrift ‚Trekkingbike‘ und in etwas anderer Form in der Zeitschrift ‚auto motor und sport‘.

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Médoc | Frankreich

 

Haut Médoc (Frankreich), 1998
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