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Beim Zeus
In der Olympiastadt Athen lässt man fahren. Durch das alltägliche Chaos der Hauptstadt Griechenlands. Der Mercedes 240 D des Taxichauffeurs Markos Polithos beweist: Ewiger Verkehrsfluss beschert ein langes Autoleben.
Der Esel lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er glotzt auf das näherkommende Taxi und bewegt sich keine Hufesbreite von der schmalen Ogigoustraße. Markos Polithos stoppt seinen gelben Youngtimer, einen Mercedes 240 Diesel, greift sich aus der roten Plastikhalterung einen Pappbecher und nimmt einen Schluck kalten Kaffee. Markos ist 34 Jahre alt, kahlgeschoren und sieht aus wie der jüngere Bruder des französischen Schauspielers Jean Reno.
Der Familienvater steuert sein neun Jahren sein Taxi durch das kapitale Verkehrschaos von Athen. „Immer mit der Ruhe", meint er, „sonst verliert man in diesem Job schnell den Humor." Die Gelassenheit ist ihm ins Gesicht geschrieben, genauso wie den archaischen Jünglingsskulpturen, die ein paar hundert Meter weiter im Nationalmuseum die Besucher angrinsen.
Endlich stellt der Esel die Ohren auf und gibt die Straße frei. An diesem Morgen hat Markos Polithos Zeit. Er geht mit seinem Fahrgast auf Entdeckungstour durch das Labyrinth der Fünf-Millionen-Metropole Athen. Fast jeder zweite Hellene lebt in der Hauptstadt – einem ockerweißen Häusermeer aus 37 einzelnen Städten im Attischen Becken, begrenzt von Bergen und vom Saronischen Golf.
Mehr als eineinhalb Millionen Autos und Motorräder zwängen sich Tag für Tag durch die Stadt. Die 20 000 Taxis darunter sind vergleichsweise wenig, und doch dominiert ihre gelb-orange Signalfarbe im Verkehr. Standzeiten beschränken sich auf Rotphasen an Ampeln, denn wer hält, hält auf.
Das ist auch der Grund, warum eine touristische Tour in der Metropole zwar durchaus im Auto, aber am besten mit Chauffeur Sinn ergibt – einem wie Markos, der an den Markthallen am Athinas Boulevard gerade Berge von Nektarinen, Orangen, Tomaten und lagenweise frischem Fisch umkurvt. Der 240er steckt im Stadtteil Psiri, wo sich kleine Läden aneinanderreihen wie in einem orientalischen Basar.
Die Parkverbotsschilder in den engen Straßen sind für einheimische Fahrzeuglenker Dekoration. Die an den Gehweg gequetschten Autos zwingen zum Abbiegen in mehreren Anläufen. Das
Getriebe gurgelt, der Wagen tanzt mal vor, mal zurück. Zwischen Stoßstange und Hindernis wird die Luft dünn. Kein Grund für den Mann, sich auch nur ansatzweise aus dem Fenster zu lehnen. Er kennt sein Auto.
Und er lobt den Oldie mit dem Stern auf und einem Austauschmotor unter der Haube in den höchsten Tönen: „Ich zähle schon lange nicht mehr, aber bei einer üblichen Tagesleistung von 400 Kilometern hat mein Wagen den Globus sicher schon 70 Mal umrundet". Ein bewegtes Autoleben hinterlässt Spuren: Der Lack ist stumpf, die Kotflügel sind nicht mehr gut in Form, und das schwarze Interieur hat den angekratzten Charme einer Wartehalle.
Jetzt erklimmt der betagte Benz der Baureihe W 123 den 277 Meter hohen Lycabettos-Hügel. Der allgegenwärtige Smog hat sich über Nacht wundersam verflüchtigt, und ausnahmsweise reicht der Blick von hier aus über die antike Akropolis hinaus bis weit nach Süden aufs Meer. Vom Gipfel bei der Kapelle, die dem Heiligen Georg geweiht ist, bieten sich Ausblicke, bei denen man sich über den Dächern schwebend wähnt. Lärm und Gedränge sind weit weg.
Zumindest fünf Autominuten weit, bis die Geschäftigkeit in der Skoufa Straße im Stadtteil Kolonaki wieder Bodenhaftung beschert. Zeitgeistig-modisch ist dieses Nobelviertel Athens. Erschöpft von der Büroarbeit, vom Slalomlauf durch Boutiquen, Kosmetikstudios, Feinkostläden und sündteure Juweliergeschäfte in der Kapitsa Straße, braucht Yuppie jetzt einen Espresso in den Cafés „Da Capo" oder „Ciao". Mann rückt den Krawattenknoten gerade, Frau frischt ihr Make-up auf und schiebt die Sonnenbrille ins Haar. Showtime am Kolonaki-Platz.
Ein Stück weiter führt ein überdachter Fußweg ins Megaron Stathatis, eine klassizistische Villa aus dem 19. Jahrhundert, erbaut vom bayerischen Architekten Ernst Ziller. Ein Zeugnis aus der Vergangenheit der jungen Hauptstadt, als mit europäischer Waffenhilfe der Freiheitskrieg gegen die 400-jährige Türkenherrschaft gewonnen und den Griechen ein gewisser Otto von Wittelsbach vor die Nase und auf den Thron gesetzt wurde. Der Freund der Antike war es, der 1834 die Hauptstadt Athen gründete – seinerzeit ein unscheinbares Dorf mit 6000 Einwohnern, das von den Trümmern seiner Hochkultur umgeben war.
König Otto importierte nicht nur das bayerische Verwaltungs-, Rechts-, und Schulsystem, sondern auch Stadtplaner und Architekten, um das rasante Wachstum zu einer modernen Großstadt in geordnete Bahnen zu lenken. Architekt Ziller, der auch das Wohnhaus des schatzsuchenden Abenteurers Heinrich Schliemann am Panepistimion Boulevard errichtet hat, war an der Planung der Hauptverkehrsadern maßgeblich beteiligt. Er konnte kaum ahnen, dass sie heute vom permanenten Infarkt heimgesucht werden.
Taxifahrer Markos klagt nicht über den Verkehr, aber über die Polizei. Und deutet auf einen Kollegen in lebhaftem Streit mit Ordnungshütern am Straßenrand. „Auf der Busspur geschnappt", vermutet er, „der Mann hat heute wohl umsonst gearbeitet." Drakonisch werden auch andere Vergehen geahndet: Wer im absoluten Halteverbot parkend erwischt wird, dem montiert die Polizei als Pfand fürs Knöllchen einfach die Nummernschilder ab.
Markos glaubt, die Regierung wolle zur Olympiade 2004 ein geordnetes Athen vorweisen. Im hufeisenförmigen Stadion Pangrati, wo 1896 die ersten neuzeitlichen Olympischen Spiele stattfanden, sollen in zwei Jahren die nächsten Wettkämpfer eröffnet werden.
Dann müsste auch der Metrotunnel fertig sein, doch unter der Erde Athens geht es viel langsamer voran, als der vorolympische Terminplan es vorsieht. Die tiefen Erdschichten sind dicht gepackt mit mehr als 2000 Jahre alten Vasen, Statuen und Schmuckstücken. Deshalb zanken sich Verkehrsplaner, Umweltschützer und Archäologen fortwährend darum, ob der Bewegungdrang der Gegenwart vor dem Bewahren der Geschichte Vorrang hat.
Markos meint, die Streithähne sollten, wie es viele Athener ganz alltäglich tun, in einer Kirche ein paar Kerzen anzünden und um Erleuchtung bitten. Vielleicht klappt's dann doch mit dem Zeitplan.
Ulrich Schendzielorz
Sie finden diesen Artikel in der Zeitschrift ‚auto motor und sport‘.
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Athen | Griechenland