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Wie Gott in Assyrien
Lebenskunst vor 3000 Jahren in der mesopotamischen Steppe. Selbst die Außenposten des assyrischen Reichs spiegelten Stärke und Luxus der Vormacht im Zweistromland. Kühlhäuser, Air-condition und sanitäre Finesse – jetzt von Berliner Archäologen ausgegraben – zeugen von der zivilen Hochkultur eines Kriegervolks.
Das Abendrot macht schauern – weniger vor Bewunderung für die Farbfantasia, die der Himmel kurz von dem Dämmern präsentiert, als vor Kälte, die mit der sinkenden Sonne hereinbricht. Die Reisenden des ersten Jahrtausends vor Christus frösteln. Die Edelmänner forcieren ihre Rosse, die Kaufleute im Gefolge treiben furioser die Eselkarawane in der Savanne östlich des Euphrat voran.
Wo die Vegetation Farbe bekommt, kann der Troß sich entspannen. Nicht die nahe Nacht verschattet das aride Grün in ein tiefsattes – der Mensch hat kräftig nachgeholfen: Im Schritt geht der Ritt durch Haine und Plantagen, in den Kanäle das Gießen besorgen. Dieses Bewässerungssystem von knapp 200 Kilometern Länge füllt ohne Unterlass der Khabur, ein Nebenfluss des Euphrat, und der Djagdjag, ein Seitenfluss des Khabur. Nach der Passage der Oase kommt am Ende des fünften Tages für die Reisenden aus Assur das Ziel in Sicht: Dur-katlimmu, die neue Provinzkapitale weit im Westen des spätassyrischen Reiches.
Hier endet die letzte asphaltierte Straße, danach gibt es nur noch Pisten ins Niemandsland. Schech Hamad nennt sich das verlorene Nest, rund vierzig Kilometer westlich der syrisch-irakischen Grenze. Die Reisenden aus dem Jetzt haben es mit dem Taxi erreicht – nach einer eintägigen Busfahrt von Damaskus bis zur Provinzhauptstadt Dair ez-Zor. Ihr Ziel ist ebenfalls Dur-katlimmu, heute eine der interessantesten archäologischen Stätten in der kultursatten und gewalttätigen Region der frühen Zivilisationen zwischen Mittelmeer , Zweistromland und Anatolien. Wissenschaftler der Freien Universität Berlin rekonstruieren hier das Leben von 3000 Jahren.
Innerhalb der Mauern von Dur-katlimmu hält die antike Reisegruppe auf den hintersten Winkel der Stadt zu: Feiner wie ein kleiner Mann sitzen in der Nordostecke vor dem Palast ab. Dessen Prachtportal ist Haupt- und Lieferanteneingang in einem, da sich direkt am Tor die Kühlhäuser reihen. Beim Speisekämmerer laden die antiken Lebensmittelhändler ihre Delikatessen ab, die umgehend in die kalten Gewölbe wandern.
Die Hochgeborenen streben heiligeren Hallen zu. Sie lassen den doppelt überwölbten Getränkekeller rechts liegen, der den langen heißen Tag über Wasser ‚on the rocks‘ auf Lager hat. Das aus dem Bewässerungskanal in die Stadt geleitete Wasser kommt dem frischen Nass eines Gebirgsbachs gleich. Wder die Etikette durchqueren die Gäste holterdiepolter den Thronsaal, auf dass sie der Pazuzu nicht krallt. Nah bei diesem dämonischen Vogelwesen mit dem Menschenleib, der sich in Bronze an der Stirnwand plustert, fängt man sich leicht einen Schnupfen ein. Das vierfach geflügelte Fabelwesen kann noch weit üblere Krankheiten bringen – Pazuzu kann aber auch heilen und schützen, wenn er zuweilen Engel spielt.
Der Dämon der alten Assyrer wurde zum guten Geist der jetztzeitigen Archäologen. Als Hartmut Kühne und sein Team die Chimäre aufstöberten, lag sie platt auf dem Schnabel, Bürzel würdelos in die Höh'. Doch Pazuzu zeigte sich von seiner netten Seite und führte den Berliner Professor geradewegs zum besten Haus am Platze. Begonnen hat alles mit einem ‚Tell‘, einer Art Wundertüte für die Wissenschaftler mit dem Spaten. Diese Siedlungshügel im Nahen Osten haben's meist in sich: Der Grundlehmziegel für den Tell in Schech Hamad wurde Ende des 4. Jahrtausends vor Christus gelegt. Und wann immer das Dorf durch Krieg zu Bruch ging, wurde ein neues auf dem Schutt erbaut – stolze 27mal fing man hier von vorne an.
Da Zeit und Mittel bei weitem nicht reichten, um das gesamte Lehmziegelmassiv abzutragen, musste sich Kühne mit Stichgrabungen begnügen. Einer dieser Sondagen war ein Glückstreffer: An seiner Westflanke gab der Siedlungshügel den Namen des Ortes preis. In Stapeln von keilschriftlicher Korrespondenz – gewichtiger Bestandteil eines Archivs aus dem 13. Jahrhundert vor Christus – wurde die Adresse der hier ansässigen Residenten mit ‚Dur-katlimmu‘ angegeben.
Nachdem Altertumsforscher Kühne im Zitadellenbereich des Hügels bei den Oberen Assyriens reingeschaut hatte, wollte er sich auch in der Unterstadt umsehen. Dieser Bezirk am Fuße des Tells nahm seinen Anfang im 8. Jahrhundert vor Christus – und dann gleich auf einer Fläche von 35 Hektar. Der Grund für die jähe Erweiterung war nicht eine Bevölkerungsexplosion, sondern eine Machtexpansion: Um 740 vor Christus hatte Assyrerkönig Tiglatpileser III. in einem Rundumschlag alle Nachbarn unterworfen und das Reich nach langen Zeiten der Schwäche abermals zur Supermacht Vorderasiens gemacht.
„Die Assyrer waren wieder wer und haben, um ihre Macht zu dokumentieren, die Provinzzentren aufgewertet“, kommentiert Hartmut Kühne. Provinziell war das neue Dur-katlimmu nicht im geringsten. Davon konnte sich der Archäologe überzeugen, als er – auf der Suche nach den Untertanen – nach dne bescheideneren Quartieren weit weg vom Zentrum in Nordostwinkel des Stadtwalls forschte. Doch Pazuzu zeigte ihm nur eine Behausung – aber was für eine! Die Räume wuchsen sich hier zu hier zu Hallen aus, die selbst heute – nach fast 3000 Jahren – an vielen Stellen noch drei Meter aufragen. Als sich der Grundriss abzeichnete, war für Kühne klar, dass er auf einen assyrischen Provinzpalast gestoßen war, dessen Empfangsräume das Aussehen eines "Bit Hilani" hatten, einer traditionellen syrisch-aramäischen Bauform.
Als die antiken Reisenden aus Assur die Verwaltungsmetropole erreichen, ist freilich der Palast noch neu, seine hohe Pracht ungebrochen: Wohnsaal und Empfang sind gleichermaßen warm, und Laune wie Körpertemperatur steigen in den wohlig geheizten Luxusbädern. Kaum liegen sie sauber und gesalbt zu Tische, tragen ihnen Sklaven gebratenes Wildschwein auf. Die Lieblingsspeise der Assyrer ist hier alltägliche Festessen, da man in Dur-katlimmu den künftigen Braten direkt vor der Nase hat: Im Flussdickicht entlang des Khabur tummelt sich das Borstenvieh rudelweise und fühlt sich in den Sümpfen der Altwasser sauwohl.
Auch bei Tageslicht besehen, ist das Gebäude ien Palast mit Pfiff. In den schmalen Gassen vor seinen Mauern wird der Wind gefangen und durch Luftschlitze in die fensterlosen Zimmer geleitet, wo schwarzweiße Wandmalereien auch optische Kühle vermitteln. Doch in den kalten Nächten ist der natürliche Ventilator außer Kraft, und man schafft behagliche Wärme überall mit den fahrbaren Holzkohlebecken. Savoir vivre in Assyrien – bislang als Heimstatt roher Krieger verschrien.
Auf all diese frühen Errungenschaften müssen die modernen Ausgräber verzichten. Nach Sonnenuntergang wird es so eisig im Grabungshaus, dass sich die Archäologen schon zur abendlichen Lagebesprechung den Schlafsack überziehen. Seit assyrischen Zeiten hat sich das Klima nicht geändert, wohl aber die Natur. Zehn Jahre wurde in Schech Hamad interdisziplinäre geforscht, um sich die damalige Umwelt vergegenwärtigen zu können. So kam man einem üppigen Gräsermeer auf die Spur, wo selbst wählerische Elephanten und Gazellen in ihrem Element waren. Der Löwe – mit Abstand Hauptmotiv der Kunst am mesopotamischen Bau – gehörte noch zu den Ureinwohnern. "Die Wüste hier entstand nicht durch eine Klimakatastrophe. Die hat allein der Mensch verursacht", lernte Hartmut Kühne bitter dazu. Als die Menschen im Neolithikum um 6000 vor Christus aufhörten, die Steppe auf der Suche nach Nahrung zu durchstreifen, fing das Drama an. Sesshafte sind zwangsläufig Umweltsünder, da aller Ackerbau Raubbau an der Natur ist. Durch Rodung verschwanden auch der Galeriewald und seine Fauna – von Wildschweinbraten kann man heutzutage nur noch träumen. Weidewirtschaft im großen Stil machte der Graslandschaft den Garaus. weil Schafe und Ziegen zu schlechter Letzt auch noch das Wurzelwerk vertilgten. Nichts hielt mehr den Mutterboden und der Wind hatte hier leichtes Spiel.
Schon immer waren in diesen Breiten die Niederschläge zu gering, um Korn und Gemüse gedeihen zu lassen. Wie hat es dann eine Stadt wie Dur-katlimmu geschafft, sich weitab der Regenbaugebiete über Wasser zu halten, fragte sich der Archäologe – und anschließend die Naturwissenschaftler in seinem Team. Die hatten auf ihren zahlreichen wissenschaftlichen Wanderschaften im Gelände schließlich eine geniales Bewässerungssystem eruiert. Per Aquädukt und Tunnel nutzten die assyrischen Tausendsassas das natürliche Gefälle und leiteten über 200 Kilometer Wasser aus dem Quellfächer des Khabur auf die unterste Terassenstufe des Plateaus, die es in eine blühende Oasenlandwirtschaft verwandelte.
2800 Jahre später: Beim Wecken morgens um vier hat sich die Abenbrise zum Sandsturm aufgeblasen. Ihr Kopftuch tief im Gesicht, kommen die Beduinen zur Arbeit im ‚Roten Haus‘. Hier beackern sie Kühnes neues Grabungsfeld, einen Ausschnitt im Zentrum der Unterstadt. Weiter auf der Suche nach dem Kleine-Leute-Viertel, setzt er hier, wie auch vorher im Palast, nicht nur den Spaten, sondern auch einen Mini-Bulldozer ein. Mit Ballonreifen eigens für Grabungen umgerüstet, fährt er wie auf Eiern über die Ruinen. Seine Riesenbesen fegt in Windeseile – der Archäologe kann nur noch lachen – wieder den Grundriss hochherrschaftlicher Gebäude frei, die Residenzen hoher assyrischer Beamter.
Bei Beamtens hat man es fast besser als im Palast: Krönung ist hier eine zweite Etage, auf die eine Treppe – heute hinaus ins Freie – hinweist. Die Prunkgemächer sind hier farbig ausgemalt, im Gegensatz zu den schwarzweißen Ornamenten drüben beim Regenten. Auch an den heißen Tagen kommen die Staatsdiener nicht ins Schwitzen, fächelt doch ebenfalls eine natürliche Klimaanlage immer kühle Luft in die Kontore. In dieses Residenzviertel wurde in nachassyrischer Zeit der Neubau des ‚Roten Hauses‘ gegründet. Das Inventar dieses Folgehauses revidierte unser Geschichtsbild: Neben viel feinem Geschirr stießen die Ausgräber auf vier Tontafeln, an denen die Keilschriftgelehrten zu knabbern hatten. Den Text der irdenen Vertragsurkunden konnten sie entziffern – wie so oft in Assyrien wurde unter Zeugen Land überschrieben – aber der Briefkopf gab Rätsel auf. Er war falsch datiert. Im assyrischen Reich wurde das Jahr jeweils nach einem verdienstvollen und wohl auch mächtigen Beamten benannt. Man musste in Assyrien nicht zählen, sondern sich Namen merken – so genannte Eponymenlisten ermöglichten dann den Vergleich mit den Regierungsjahren der Könige.
Doch der Name auf den Fundstücken markiert eine andere Zeit. Da steht auf assyrischen Formularen in assyrischer Keilschrift das Datum : „Im zweiten Regierungsjahr Nebukadnezars“. Der aber ist König von Baylon, und vor 602 vor Christus waren die Assyrer von der Weltbühne verschwunden – aber offenbar nicht so spurlos, wie die Geschichtsschreiber bis dato behaupteten. „Ein Fund und Befund wie aus dem Bilderbuch“, kann Hartmut Kühne immer noch jubeln.
Die Babylonier hatten das Nachbarland 612 vor Christus überrannt, dort keinen Stein auf dem anderen, die Administration aber beim alten gelassen. Dur-katlimmu hatte zwar einen babylonischen Gouverneur, doch in den Schreibstuben kratzten sichtlich weiter Assyrer – Revision eines Stückchens Geschichte.
Nach dem letzten Grabungstag im Herbst letzten Jahres ist Feier-Abend, denn der syrische Vorarbeiter hat alle Archäologen zum ‚Mahtaf‘ geladen, dem traditionellen Hammelfestessen der Beduinen. Der örtliche Scheich und Hartmut Kühne sind die Ehrengäste, und so muss der Wissenschaftler ins saure Auge beißen – das der Schafe gilt als besonderer Leckerbissen. Als der Vorarbeiter noch ein Kind war – seine Familie war gerade seit zwei Generationen sesshaft – fand er eine Keilschrifttafel und brachte sie Kühne und seinen Kollegen, die damals, 1977, für einen historischen Atlas des Vorderen Orients die Gegend kartierten. Noch Halbwüchsiger, half er bei den ersten Kampagnen mit und blieb der Ausgrabung auch als Erwachsener treu. Mit dem Verdienst konnte er eine Familie gründen und ein Haus bauen. Der Grabungswächter, ein reicher Bauer im Dorf, hat es mittlerweile zu zwei Frauen, Häusern und Familien gebracht.
Die Archäologen tun einiges für die arme Region im hintersten Winkel Syriens. Alle Sommer werden über siebzig Arbeiter beschäftigt, unter anderem in der eigenen Ziegelei. Mit luftgetrockneten Lehmziegeln – fast so schön wie die von einst – wird das Rote Haus ausgebessert. Die Rekonstruktion soll die Mauern vor weiterer Erosion bewahren und Touristen anlocken.
Deshalb macht sich Hartmut Kühne für das Archäologie-Museum in der Provinzhauptstadt Dair ez-Zor stark. Sultan Muheisin von der Antikenverwaltung in Damaskus hat das Projekt initiiert und sich von Kühne Rat und Mittel erbeten. Mit wissenschaftlicher Fantasie und einem Zuschuss vom Auswärtigen Amt wird in dem Basarflecken ein archäologischer Erlebnispark realisiert: Nachgebaute Palast- und Stadtteile bilden dort den Rahmen für die bereits ausgegrabenen Kulturschätze der Sumerer und Assyrer.
Die alten Assyrer leisten abermals Entwicklungshilfe in ihrer Heimat. So hat vielleicht auch Dur-katlimmu eine Zukunft.
Dr. Waltraud Sperlich
Sie
finden diesen Artikel von Waltraud Sperlich und Ulrich Schendzielorz in voller Länge in der Zeitschrift ‚bild der wissenschaft‘.
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Dair ez-Zor | Syrien